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Materialität und der Prozess der Individualisierung

Materialität und der Prozess der Individualisierung im späten Mittelalter, Prof. Dr. Jean-Claude Schmitt (Paris)

In seinem Vortrag "Materialität und der Prozess der Individualisierung im späten Mittelalter" wird der Historiker Jean-Claude Schmitt den statischen Begriff des Individuums, wie ihn Jakob Burkhardt Ende des 19. Jahrhunderts konzipierte, dahingehend kritisch hinterfragen, ob nicht vielleicht besser das Konzept der dynamischen Individuation an dieser Stelle gedacht werden müsste. Das Individuum konstruiert sich selbst unaufhörlich psychisch und gesellschaftlich, und die materiellen Dinge, die es umgeben, tragen ihren alltäglichen Teil zu dieser Produktion bei. Ausgehend vom späten Mittelalter und der Renaissance wird der Vortrag dies anhand folgender Beispiele veranschaulichen: der glühenden Frömmigkeit, greifbar in Testamenten, dem Ablasshandel sowie dem Rosenkranzgebet, dann mit dem Aufkommen des Motivs des Totentanzes im Zusammenhang mit der in Wellen wiederkehrenden Schwarzen Pest und schließlich mit dem Erscheinen eines neuen, festlichen Rhythmus': der Feier der Geburt. Erst zu diesem Zeitpunkt löste der Geburtstag als Festtag die bis dahin verbreitete christliche Tradition ab, den Jahrestag eines Menschen zu begehen, d.h. seiner an dessen Todestags zu gedenken. Einer der ersten Zeugen dieses neuen Brauchs war Matthäus Schwarz - Finanzverwalter der Fugger in Augsburg - der sich mehrmals selbst in seinem Trachtenbuch in neuen Gewändern darstellte, die er jeweils anlässlich seines Geburtstages fertigen ließ. Kann man nicht in Anlehnung an den großen, holländischen Historiker Johann Huizinga (Herbst des Mittelalters, 1919), der vom Ende des Mittelalters als einer von vermischten Gerüchen und Widersprüchlichkeiten beherrschten Zeit spricht, behaupten, dass die immer regelmäßiger begangene Feierlichkeit des Geburtstages, die Geburt des Individuums in jener Zeit, zugleich innerhalb der langen Geschichte der Europäer eine Revanche des Lebens über den Tod, ein Umschwenken des Todes hin zum Leben bedeutete?

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